“Hemingway über mich: ‘He would be a great writer if he had never written another thing than Buddenbrooks.’” Das notiert sich Thomas Mann am 25. November 1935. Es ist das Jahr seines 60. Geburtstags, den er im Exil am Zürichsee verleben muss. Da gab es viele Würdigungen von vielerlei Faktur. Darunter eben jene von Hemingway, den das Tagebuch übrigens als Hemmingway buchstabiert. Der Satz wird abends aufnotiert; nach dem obligaten Gesundheitsbericht und der Tagebuchnotiz über ein diktiertes Interview für ein Wiener Wochenblatt. Just dieser Satz: Hätte der Verfasser von Buddenbrooks später nicht mehr geschrieben, er wäre ein großer Schriftsteller. Ein Wort als Kommentar: „Zweideutig!“
In der Tat. Auf den ersten Blick könnte man das abtun als ein etwas fades Diktum eines bedeutenden Schriftstellers über einen anderen. Im Jahre 1935 waren die ersten beiden Bände des Josephs-Romans bereits erschienen, es gab den Zauberberg, den Tod in Venedig, die meisterhafte Novelle von Mario und dem Zauberer Cipolla, große Essays, Ansprachen und Reden. Das alles sollte verhindert haben, dass der Autor von Buddenbrooks seinen ursprünglichen Rang als Schriftsteller behielt?
Allein Thomas Mann hat die These anders gelesen und gedeutet. Daher das Wort der Zweideutigkeit, Hemingway mischt hohes Lob mit entschiedener Ablehnung. Er meinte wohl dies: Nur der frühe Autor des Romans vom Verfall einer lübischen Bürgerfamilie sei ein großer Schriftsteller gewesen.
Natürlich hat Hemingway nicht recht. Trotzdem ist „etwas dran“. Seine spezifischen Möglichkeiten als Schriftsteller hat Thomas Mann kaum jemals wieder so rein und mühelos genutzt, wie bei diesem erstaunlichen Erzählwerk, das in der zweibändigen Erstausgabe vom Jahre 1901 mehr als 1100 Buchseiten ausfüllte, und das ein junger Mensch von 25 Jahren hatte abschließen können.
Der Fall ist einzigartig geblieben. Die Glücksfälle großer Lyrik und Musik, geschaffen von ganz jungen Menschen, sind allbekannt. Georg Büchner starb mit 23 Jahren. Aber eine epische Leistung, die an genauer Zeichnung der Ereignisse und Charaktere, an Sprachmelodie, die vor allem auch an Erfahrungsfülle mit den Buddenbrooks wetteifern könnte, wo hat es dergleichen jemals bei einem anderen Schriftsteller in solchem Lebensalter gegeben? Man hat später viel Wesens gemacht von Thomas Manns jähen und nachhaltigen Wandlungen als Erzähler, als politischer Unpolitischer, nicht zuletzt in seinem Selbstverständnis als Schriftsteller. Wie sehr jedoch der Thomas Mann des Romans vom „Doktor Faustus“ in allen Bereichen, in allen Vorlieben und Vorurteilen, der Ursprungswelt jener Jahrhundertwende verbunden blieb, das beweisen die nun veröffentlichten Tagebücher des rastlosen Selbstbeobachters und Selbstbezweiflers. Das Misstrauen gegen die eigene Menschlichkeit und sonderbare Spezialbegabung ist einmal in glücklicher Weise produktiv geworden: beim Schreiben der Buddenbrooks; weil es da für den jungen, ein bisschen verkommenen Sohn aus gutem Hause um das Weiterleben ging. Thomas und Hanno Buddenbrook müssen sterben, um den Erzähler zu retten und zur Selbsterkenntnis als Schriftsteller zu führen. Das glückte über alle Erwartung.
Indem der Zwanzigjährige mit zähem Fleiß und fast unerträglicher Selbstdisziplinierung ans Werk ging, glaubte er vorerst bloß eine Sache abschließen zu können, die alle Lübecker Verhältnisse interessieren mochte. Wen sonst wohl noch? Man las im Kreis der Familie vor aus dem anschwellenden Manuskript. Große Heiterkeit und Zustimmung. Jeder wusste, woran er bei Tony Buddenbrooks Ehekrisen zu denken hatte.
Es erwies sich im Lauf der Jahrzehnte, durchaus nicht gleich beim Erscheinen des Romans, dass die Buddenbrooks einstehen konnten für vielerlei Bürgerwelten in vielen Ländern. Thomas Mann erfuhr später, dass sich Leser zu Bordeaux in der lübischen Welt wiederzuerkennen wussten. Entzückt hatte er sich beim Nobelpreis-Bankett in Stockholm im Jahre 1929 über den Satz seiner Nachbarin Selma Lagerlöf geäußert, die dem Tischnachbarn bekannte: beim Schreiben des Romans vom Gösta Berling habe sie geglaubt, das sei etwas zum Lachen. Auch der junge Thomas Mann schrieb Buddenbrooks, weil er annahm, das sei etwas zum Lachen.
Das ist es auch. Nicht zufällig sind manche Wendungen des Romans zum Zitat geworden, woran sich Romanleser in der Welt, vor allem natürlich die Leser deutscher Sprache, belustigen und als Gemeinschaft erkennen. Das Wort des Heiratsschwindlers Grünlich etwa, der allen, mit sehr gutem Grunde, nach dem Mund redet: „Oh, mein Gott, ich gestehe meine Schwäche für Blumen und für die Natur im allgemeinen! Diese Klatschrosen dort drüben putzen ganz ungemein…“ Oder das Wort, das dem Urbayern Permaneder, dem zweiten Gatten der Tony Buddenbrook, in einer schrecklichen Nacht entschlüpfte, und das so gelautet hatte: „Geh zum Deifi, Saulud’r dreckats!“ Worauf der Erzähler nunmehr mitzuteilen hat: „So schloss Tony Buddenbrooks zweite Ehe.“ Hier brach der erste Band des Romans ab im Jahre 1901.
Wenn es dann weitergeht mit dem Erzählen, zu Beginn also des Siebenten Kapitels (der Zahlenspieler T.M. hat es schon damals mit der ominösen Siebenzahl gehabt, wie später allenthalben im Zauberberg, oder im Siebenten Kapitel von Lotte in Weimar, wo zum ersten Mal Goethe „auftritt“), ist die große Wende vollzogen. Nun erst beginnt recht eigentlich der „Verfall einer Familie“. Scheinbar befindet sich die hanseatische Kaufmannsfamilie auf dem Höhepunkt ihrer Prosperität und Vitalität. Senator Thomas Buddenbrook darf Kindtaufe feiern: Der Erbe kam zur Welt, Johann genannt, später Hanno gerufen. Allein Hanno überlebt die Pubertät nicht, er scheitert bereits an der Schule. Das vorletzte Romankapitel, das mit den berühmten Worten eines scheinbar objektiv-allwissenden Erzählers beginnt: „Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt“, ist auch von Thomas Mann selbst nie wieder übertroffen worden. Insoweit darf man ahnen, was Hemingway gemeint haben mochte.
„Verfall einer Familie“: Als der Autor der Buddenbrooks zu Anfang der fünfziger Jahre den Klappentext einer Ostberliner Ausgabe des Romans zu Gesicht bekam, wo in der üblichen Weise von Entlarvung des Bürgertums dahergeredet wurde, äußerte er sich zornig. So sei es denn doch nicht geschrieben. Der Roman ist angelegt als konsequente Gegenbewegung. Dem Verfall an Prosperität und Lebenskraft antwortet ein Gefühl der Geistigkeit und Sensibilität. Bis der kleine Hanno, schöpferisch und vergeistigt, doch lebensuntüchtig, das Ende einer Familie markiert. Noch eine andere Gegenbewegung sollte nicht übersehen werden. Dem Verfall eines Bürgertums, das aufstieg in der Goethezeit, aber verfiel im deutschen Kaiserreich, korrespondiert der Aufstieg der modernen Bourgeois: der Familie Hagenström. Immer wieder erstaunlich, dass ein so junger Mensch dergleichen beschreiben und zugleich deuten konnte.
Die Buddenbrooks eröffnen die Literatur deutscher Sprache in unserem Jahrhundert: nicht allein die Erzählliteratur. Sie mochten sich später, oft sehr vehement, abwenden von Thomas Mann, die Döblin und Musil, Jahnn und Arnold Zweig, Benn und Brecht. Geprägt worden sind sie alle durch dessen großes Frühwerk. Einer hat es gewusst und auch niemals vergessen: Franz Kafka.
© Hans Mayer